09.06.2019 Pfr. Lindner: Abschiedspredigt

Pfingstsonntag 9. Juni 2019, Abschiedspredigt Pfr. Gottfried Lindner

2. Korinther 12,9: Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, damit die Kraft Christi bei mir wohne.

Psalm 139: Gott ich danke dir, dass ich wunderbar gemacht bin, wunderbar sind deine Werke, das erkennt meine Seele.


Liebe Gemeinde, Zeiten des Abschieds sind immer auch Zeiten persönlicher Worte. Als Predigttext habe ich zwei Texte gewählt, die mich in meinem Leben als Mensch und Pfarrer intensiv begleitet haben:

Da ist zunächst der Text von Paulus, 2. Korinther 12,9: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, damit die Kraft Christi bei mir wohne.

Als Pfarrer muss man stark sein. Das habe ich sofort gespürt, als ich zum ersten Mal meinen Talar angezogen habe. Da steht man nun als Mann Gottes und muss Stärke zeigen. Unter dem Talar sieht niemand die zitternden Knie, die es bei mir immer wieder einmal gab.

Ja, man muss stark sein und auch souverän. Wie oft hätte ich bei Trauerfeiern mit den Weinenden geweint, doch das geht nicht, als Pfarrer sprichst du klare Worte und kanalisierst deine Gefühle. Das fiel mir schon schwer. Ich kann mich noch gut erinnern, dass mir bei einer Trauerfeier – ich war noch Pfr. z.A. – auch eine Träne im Auge stand. Der Sohn, dessen Mutter ich beerdigt habe, bedankte sich und ergänzte dann: Besonders bedanke ich mich für die Träne für meine Mutter.

Doch gehen wir noch etwas weiter zurück in meine Kindheit. Als Kind fühlte ich mich immer als der Schwache. Das hatte wohl zwei Gründe. Ich war ein sogenanntes Sandwich-Kind und hatte eine starke, bestimmende ältere Schwester. Mein jüngerer Bruder war auch dominant und vor allem intelligent.

Ich dagegen hatte eine etwas schwere Zunge. Ich konnte von Kind auf nicht so flüssig sprechen. Wenn ich aufgeregt war, kam kein Wort über meine Lippen oder ich begann zu stottern. In meinen Zeugnissen stand dann immer: Gottfried müsste mehr aus sich herausgehen. Doch das war nicht so einfach, wenn man so eine sprachliche Hemmung hat.

Für mich war es später interessant, von zwei ganz großen Männern der Bibel zu lesen, die wohl auch eine schwere Zunge hatten – und trotzdem hat sie Gott berufen. Da ist zunächst Mose: er brauchte seinen Bruder Aaron, der für ihn gesprochen hat.

Ich zitiere aus 2. Mose 4. Mose erwiderte Gott am brennenden Dornbusch: „Ach Herr, ich habe doch noch nie gut reden können, und auch seit du mit mir, deinem Diener, sprichst, ist das nicht besser geworden. Ich bin im Reden viel zu schwerfällig und unbeholfen.“ Trotzdem wurde Mose ein großartiger Führer seines Volkes.

Die andere Person in der Bibel ist Paulus. Wir kennen seine wunderbaren Briefe. Doch im Korintherbrief wird uns berichtet, dass er kein großartiger Redner war. Ich zitiere 2. Korinther 10,10. Dort wird ihm vorgeworfen: „Denn seine Briefe, sagen sie, wiegen schwer und sind stark; aber wenn er selbst anwesend ist, ist er schwach und seine Rede kläglich.“ Ja, auch Paulus, der große Theologe des Neuen Testamentes, hatte wohl auch eine schwere Zunge. Das machte mir Mut.

Irgendwann habe ich nun diesen Vers aus dem 2. Korintherbrief für mich entdeckt. Mir wurde bewusst, dass Gott auch meine Schwachheit braucht, bzw. meine Erkenntnis, dass ich schwach bin und dass er gerade durch diese Schwachheit wirkt, ja, dass er diese Schwachheit gebraucht, um seine Kraft deutlich zu machen.

So wurden mir meine Schwachheiten, oder ich nenne sie jetzt einmal meine Defizite, zur Glaubenshilfe. Mir wurde deutlich: Gott braucht meine Schwachheit, um seine Kraft zu zeigen.

Das machte mich mutig. Ich tat Dinge, über die ich heute noch staune. Zum Beispiel fragte mich mein Pfr. Hägel, ob ich nicht eine Jungschar aufbauen und leiten wollte. Ich war damals 15 Jahre und Schlosserlehrling. Ich lud zu einer Jungschar ein, wurde Spezialist für Sport und Spiel. Nur bei den Andachten haperte es, wegen meiner schweren Zunge. Doch die Jungs nahmen es mir ab, weil es von Herzen kam. Meine Jungschar war bald so groß, dass ich eine zweite Gruppe bilden musste.

Dann wurde ich auch beruflich mutig. Ich wollte Ingenieur oder Diakon werden. Doch dazu benötige ich die Mittlere Reife. So begann ich noch in meiner Lehrzeit die Berufsaufbauschule.

Nachdem ich die Mittlere Reife einigermaßen geschafft hatte, öffnete sich die Möglichkeit, in zwei Jahren das Abitur nachzuholen. Ich war durch meinen Glauben so mutig geworden, dass ich sagte: warum eigentlich nicht. Doch ich kann mich noch gut an meinen Schulleiter von der Berufsaufbauschule in Hof erinnern. Als ich ihm erzählte, dass ich die Berufsoberschule in Bayreuth besuchen wollte, runzelte er die Stirn. Er sagte es nicht deutlich, doch ich wusste, was er meinte: Das ist eine Schuhnummer zu groß für Sie; Herr Lindner.

Er hatte nicht ganz Unrecht, die Berufsoberschule war wirklich knallhart, und dass ich sie bestanden habe, ist für mich immer noch ein Wunder. Nur damit sie einen Eindruck gewinnen, wie das damals so war: bereits nach einem halben Jahr hatte sich die Klasse von 35 auf knapp 20 Schüler reduziert. Sie gingen freiwillig, weil die Herausforderungen zu massiv waren. Doch ich erlebte: meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Ich biss mich durch, Gott hatte mir einen eisernen Willen geschenkt und ich bestand, zwar sehr knapp, aber wen interessiert das später schon.

Nun wollte ich ja auch noch Theologie studieren und Pfarrer werden. Ich ging erst einmal zur Berufsberatung. Dort traf ich einen Berater, der selbst einmal versucht hatte, Theologie zu studieren und dann wegen den „Alten Sprachen“ abgebrochen hatte. Er schaute mein Abizeugnis an, sah meine fünf in Englisch, und dann fing er an, mit beredten und väterlichen Worten, mir andere Wege schmackhaft zu machen, aber doch auf keinen Fall Theologie.

Doch irgendwie bewirkte das gerade das Gegenteil. Jetzt erst recht oder: meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.

Und sieben Jahre später bestand ich das erste theologische Examen und wurde Vikar.

Besonders im Studium wurde mir deutlich, dass jeder Mensch so seine Schwächen hat. Bei dem einen zeigen sie sich deutlicher und andere können sie gut tarnen. Da gab es schon einige Professoren, die geniale geistige Fähigkeiten hatten, aber große Defizite im praktischen Alltagsleben.

Den perfekten Menschen gibt es nicht.  Der wird uns allerdings immer wieder vorgegaukelt, vor allem in den Medien. Aber auch große Stars haben ihre Schwächen und Defizite.

Ich habe zahlreiche Menschen kennengelernt, die nie ihre Defizite aufarbeiten und annehmen konnten. Sie haben dann einen teilweise recht schwierigen Charakter entwickelt und lebten nicht wirklich authentisch.

Mit meinen Konfirmanden besuchte ich zum Abschluss der Konfizeit viele Jahre die Werkstatt für behinderte Menschen. Bei der Vorbereitung habe ich meinen Konfis immer deutlich gemacht, dass jeder Mensch seine Behinderungen hat. Menschen mit sichtbaren Behinderungen können ihre Defizite nicht verstecken. Deshalb bin ich gerne mit diesen Menschen zusammen, weil sie ganz natürlich mit ihren Behinderungen umgehen und ihnen zum Trotz fröhlich leben.

In diesem Zusammenhang ist mir ein zweites Bibelwort wichtig geworden, aus Psalm 139. „Gott ich danke dir, dass ich wunderbar gemacht bin, wunderbar sind deine Werke!“

In diesem Psalm spricht ein Mensch, der sich vor Gott dankbar annimmt. Und das gerade nicht, weil er perfekt ist. Er prahlt nicht wie ein selbstgefälliger und unreifer Mensch. Nein, er dankt Gott, dass er ihn, so wie er ist, geschaffen hat, mit all seinen Behinderungen, Defiziten und Schwächen. Gerade diese Mischung macht sein wunderbar menschliches Wesen aus, für das er Gott dankbar ist.

Dieser Psalm will uns lehren, dass wir bei Gott Schwächen haben und sie ihm ganz offen zeigen dürfen. Er hat uns schließlich so geschaffen und die Schwachpunkte bewusst in unser Leben gelegt.

Wir definieren uns ja gerne über unsere Stärken und Fähigkeiten. Unsere Defizite und Schwachpunkte sehen wir meistens als Hindernisse, die wir gerne loswerden würden.

Doch mir wurde deutlich, dass die Defizite und Schwachpunkte in unserem Leben wohl genauso wichtig sind. Sie bewahren uns vor Überheblichkeit und wir sollen an ihnen arbeiten, uns weiterentwickeln und reifen.

Unser Schöpfer möchte aus uns Menschen machen, die auch die Defizite aus seiner Hand nehmen. Und die sie schließlich auch als notwendige Gabe sehen und Gott dafür danken. „Danke Herr, dass ich wunderbar gemacht bin. Danke für meine Schwächen, die mein Wesen wunderbar weiter entwickeln.“

Das ist ein Geheimnis des Glaubens, dass auch der Heilige Geist gerne unsere Schwachpunkte gebraucht, um in der Welt zu wirken. Gottes Wirken wird umso klarer, je deutlicher die Schwachheit seiner Werkzeuge ist. Auch der große Apostel Paulus hat erfahren, dass Gottes Kraft in seinen Schwachheiten mächtig ist.

Liebe Gemeinde, wenn ich mich heute von Ihnen verabschiede, dann nicht als der Starke, der alles so toll gemacht hat. Ich habe natürlich versucht, mit meiner begrenzten Kraft alles zu geben, was mir möglich war. Ich bin auch meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dankbar, die mich ergänzt und korrigiert haben, die mich auch vor Fehlern bewahrt und meine Schwachpunkte ertragen haben.

Besonders dankbar bin ich der Gemeinde, dass Sie mich damals vor 15 Jahren als Pfarrer aufgenommen haben, der sich von seiner Frau getrennt hatte. Ich kam damals wirklich als der Schwache, der mit seinem eigenen Schicksal haderte und nicht mehr wusste, ob er noch Pfarrer sein kann.

Doch Sie haben mich akzeptiert, auch in der Zeit, als alle drei Söhne bei mir wohnten. Sie haben auch meine zweite Frau gerne aufgenommen und die Hochzeit hier in der Kirche unterstützt. Heute kann ich nun dankbar auf über 15 Jahre als Pfarrer und Seelsorger in Laineck zurück blicken. Sie haben mich mit meinen Stärken, aber auch mit meinen Schwachpunkten getragen.

Falls ich bei jemanden etwas versäumt habe, ihn verletzt oder beleidigt habe, bitte ich um Entschuldigung. Ich möchte in Dankbarkeit und Frieden von Ihnen gehen und darum bitte ich Gott, dass er uns das schenkt.

Amen.