Unsere neue Orgel wurde in einem feierlichen Gottesdienst am 12.09.2010 von Dekan Peetz eingeweiht.
„All euere Sorge werft auf ihn; denn er sorgt für euch.“ 1. Petrus 5,7
„All eure Sorgen werft auf ihn; denn er sorgt für euch.“ Also nicht: „Guten Morgen, liebe Sorgen, seid ihr auch schon wieder da", wie einem gleich nach dem Aufwachen in den Sinn kommen könnte, wenn einem so langsam dämmert, was von gestern herüberschwappt in den neuen Tag oder was heute auf mich zukommt. Sondern: „Sorgen ade!". Nicht das alte Lied, die alte Leier, sondern das neue, frische und fröhliche Lied, das man schon unter der Dusche zu singen anfangen könnte, oder auf dem Weg zur Arbeit oder zur Schule vor sich hin pfeifen möchte. Uns Kinder wurde zwar immer gesagt: „Beim Essen pfeift der Vogel nicht". Aber wenn man an die bekannte Tischrede Martin Luthers denkt, die bei solch einer Orgeleinweihung oder wenn es um Musik überhaupt geht, gerne zitiert wird, dann könnte man denken, dass die Musik das beste Mittel ist, sich von Sorgen zu befreien und den ganzen Druck abzuschütteln. „Wer die Musicam verachtet", sagt der Reformator, "mit denen bin ich nicht zufrieden. Denn die Musica ist eine Gabe und ein Geschenk Gottes, nicht ein Menschengeschenk. So vertreibt sie auch den Teufel und machet die Leute fröhlich. Man vergisst dabei allen Zorn, Unkeuschheit, Hoffart und andere Laster. Ich gebe nach der Theologia der Musica den nächsten Platz und höchste Ehre... Wenn Friede ist, regiert die Musik." Und an anderer Stelle sagt Luther: „Musik ist der beste Trost für einen verstörten Menschen, auch wenn er nur ein wenig zu singen vermag. Sie ist eine Lehrmeisterin, die die Leute gelinder, sanftmütiger und vernünftiger macht."
Wie schafft das die Musik, solch Wunderwerke zu bewirken? Und nicht nur das Symphonieorchester im Opernhaus oder das Festspielorchester unter der Leitung von Thielemann bei den Wagneropern, wo die Musik einen in einen Rausch versetzen kann, ganz zu schweigen von einem Rockkonzert, wo die Massen mitgerissen werden, oder wenn Jugendliche den Kopfhörer aufsetzen und sich zurückziehen in eine andere Welt. Ja, auch die Musik der Orgel kann das: einen in eine andere Welt versetzen. Wenn sie gut gespielt wird und man sich hinein nehmen lässt, vielleicht mit geschlossenen Augen. Das ist wie bei einem Magnet, wenn die Teilchen, die sonst kreuz und quer urcheinander gehen, ausgerichtet werden, eine Richtung bekommen. Wenn aus dem Durcheinander der Gedanken und Gefühle Friede wird.
Wir schafft das die Musik, solch Wunderwerke zu bewirken? Weil sie tiefere Schichten in uns an anspricht. Weil ihr Klang eindringt durchs Ohr wie ein Wasser, das dorthin gelangt, wo die Brocken der Worte stecken bleiben. Nicht nur, dass die Gefühle stärker angesprochen werden durch ihre Töne, die Musik rührt die Seele an. Und sie klingt nach, manchmal wird sie zu einem Ohrwurm, der einem nicht mehr aus dem Ohr geht. Und der Text eines Liedes wird von der Musik weit in unser Inneres transportiert wie ein Schiff vom Wasser.
Musik in der Kirche, Orgelmusik ist meist auf einen Text bezogen. Neben den großen Orgelwerken wie Präludien und Fugen, den Tokkaten von Johann Sebastian Bach oder Charles Widor, die auf dieser Orgel wohl seltener erklingen werden, neben dieser Instrumentalmusik hat ja seit der Reformation das Lied besondere Bedeutung bekommen in der Kirchenmusik. Denn die Melodie eines Liedes trägt den Text in unser Gedächtnis und in unser Herz. Nicht nur, dass man sich einen gesungenen Vers leichter merken kann als einen gesprochenen, so dass wir als Studenten uns die hebräischen Zahlen einprägten mit der Melodie „In München steht ein Hofbräuhaus". Und dazu darf eben dieser Liedtext auch nicht allzu lang und kompliziert sein. Die Gebrauchsanweisung eines Fernsehers kann man nicht als Lied singen. Liedtexte müssen einfach sein. Deswegen brauchen sie nicht zwangsläufig dümmlich werden wie das humba humba tätärä oder wie mancher Schlager; selbst die angeblich so poetischen Texte der neuen deutschen Welle sind manchmal dümmlich, und der Verhörhammer von Bayern 3 entlarvt den falschen Anspruch, wenn man anstelle von „es tobt der Hass da vor meinem Fenster" versteht, „es tobt der Hamster vor meinem Fenster". Auch Kirchenlieder können daneben geraten, so wie es das Lied gab „wenn das rote Meer grüne Welle hat". Aber diese Notwendigkeit, etwas kurz und einfach auszusagen, dass es auf eine Melodie aus vier Takten passt, die führt uns wieder zu unserem Wochenspruch und Predigttext.
Denn Sorgen kommen ja daher, dass alles so kompliziert erscheint. Nicht nur die Lohnsteuererklärung mit den vielen Formularen, die man dann wie einen Berg vor sich herschiebt. Und je länger man es schiebt, umso höher wird der Berg. Die Sorgen verschwinden, wenn es einfach wird. Wenn man nicht ein Wirrwarr von Wegen vor sich sieht, ein Labyrinth oder ein Knäuel von Fäden, sondern wenn man einfach losgehen kann. Und wenn man den ersten Schritt gemacht hat, dann sieht man plötzlich, wie es weiter geht. Lieder und Melodien müssen einfach sein, dann man sie singen und sich merken kann. So wie das „Danke-Lied" in seiner Schlichtheit seit den dem Tutzinger Liederfrühling seinen Siegeszug angetreten hat: „Danke, für diesen guten Morgen, danke für diesen neuen Tag". Ist das nicht ein einfaches, aber wirksames Rezept, den Tag nicht voller Sorgen anzugehen, sondern mit einem Danke. Auch wenn es einem schwerer fallen könnte, gleich mitzusingen: „Danke für manche Traurigkeiten". Oder dieses unübertroffen einfache Rezept aus den Psalmen: „Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt, der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt." Ein einfaches und doch kunstvolles Lied, in dem jede Strophe mit einem Wort des Psalmverses beginnt. Es schärft uns ein: „mit Sorgen und mit Grämen und mit selbsteigner Pein lässt Gott sich gar nichts nehmen, es muss erbeten sein." Dass da ein Kind schon einmal einen Verhörhammer hineingebracht und statt „mit selbsteigner Pein" „und selbst mit einem Bein" verstanden hat, zeigt eben, dass es einfach und verständlich sein muss.
Musik folgt Regeln. Eine gute Melodie, ein musikalisches Thema besteht meist aus Einheiten aus vier Takten. Sie können das an den genannten Liedern nachvollziehen. Die Kompositionen unserer Markgräfin Wilhelmine dagegen, die rumpeln manchmal etwas, weil sie Einheiten mit fünf oder mit dreizehn Takten verwendet. Schon die alten Griechen stellten eine Verbindung her zwischen dem Kosmos, dem geordneten Lauf der Sterne im All und den Beziehungen der Töne, dass eben die Intervalle entstehen, wenn man eine Saite halbiert und weiter exakt unterteilt. Musik, dieses höchst kreative Spielen, folgt genauen Regeln. Auch das ein Beitrag zum Thema „Sorgen“. Die Sorglosigkeit des Walzertaktes entsteht zum Beispiel durch den Dreivierteltakt. Ein Kind aber, das aus der Ordnung gerät, schreit nur noch, weil es völlig durcheinander kommt und nicht mehr weiß, ob es schlafen soll oder spielen. Ordnungen helfen, sich nicht dauernd Sorgen und Gedanken zu machen, ob das nun richtig ist oder falsch. Das fängt schon an, wenn man jemand zum Geburtstag gratulieren oder bei einem Trauerfall kondolieren will. Was sage ich? Was schenke ich? Gut, wenn es da Regeln gibt. Man sagt "Konventionen". Wenn ich nicht ständig neu erfinden muss, was ich jetzt tun soll. Musik ist die höchste Verbindung von Ordnung und Regeln einerseits und spielerischer Freiheit andererseits. Und unsere Lieder geben uns vor, was gerade passt. „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren" zur Hochzeit, „So nimm denn meine Hände zur Beerdigung", „O du fröhliche" an Weihnachten und „Der Mond ist aufgegangen" am Abend. Es ist doch sehr entlastend, nicht immer alles selbst erfinden zu müssen, sondern Formen u haben sich auszudrücken, sozusagen Gefäße für die Gedanken und Gefühle.
Aber nun geht es ja in unserem Predigttext ja nicht in erster Linie um die psychologischen Wirkungen der Musik, die befreit, indem sie fesselt, die Tiefenschichten der Seele ansprechen kann, die sich einprägt durch Einfachheit, die kreativ ist in ihrer Ordnung. Nicht eine Anleitung zum Wohlfühlen gibt die Bibel, wozu dann vielleicht Entspannungsmusik passen würde wie im wellness-pool. Es heißt: All eure Sorge werft auf ihn; denn er sorgt für euch. Er, Gott selbst sorgt für uns. Wir haben das Evangelium aus der Bergpredigt gehört mit den wunderbaren Vergleichen mit den Spatzen und mit der Lilie. Nicht nur das Allernötigsten gibt uns Gott, sondern er kleidet sie so herrlich, dass selbst der sagenhafte König Salomo in all seinem Reichtum dagegen verblassen muss. Und so gehört eben zu unserer Versorgung auch nicht nur das Allernötigste, sondern auch der Genuss, die Kultur, wie wir sie in der Musik finden. Uns, die wir abgesichert sind in Versorgungs- und Sicherungssystemen plagt wohl nicht die Sorge, was werden wir essen, womit werden wir uns kleiden, auch wenn die Armut zunimmt um uns herum. Sorgen bereitet Vergangenes. Dinge, die wir getan oder versäumt haben. Schuld, Fehler. Sie sollen ent-sorgt werden, dass sie uns nicht mehr belasten. Zu Gottes Anti-Sorgen-programm gehört wesentlich die Vergebung, die wir besingen in dem Lied „All Morgen ist ganz frisch und neu des Herren Gnad und große Treu", dass wir jeden Tag neu anfangen können. Unser Leben ist kein Ohnsorg-Theater voller Unterhaltung und mit mehr oder weniger derben Späßen. Darin kann die Sorglosigkeit nicht bestehen. Das bietet höchstens Ablenkung für einige Zeit, so wie man bei der Musik eben für einige Zeit alles andere vergessen kann. Das beste Mittel gegen die Sorge ist das Vertrauen, so wie es die ehemalige Bischöfin Margot Käßmann am Ende ihrer Rücktrittspressekonferenz sagte: „du kannst nicht tiefer fallen als in Gottes Hand“.
Diesen Gott zu verkündigen, den Gott, der uns so wunderbar geschaffen hat und unser Leben erhält, dem wir Dank sagen und den wir ehren für alle seine Gaben, die wir empfangen haben; den Gott, dem wir unsere Wege anbefehlen können und zu dem wir selbst aus tiefer Not rufen können; an dessen Segen alles gelegen ist; den Gott, der in Jesus Christus Mensch geworden ist, der Fleisch und Blut annimmt und mit uns wunderlich wechselt, der sich erniedrigt in Jesus Christus bis ans Kreuz, dass das Haupt voll Blut und Wunden uns trösten kann in aller Todesnot; Christ, der in Todesbanden lag und erstanden ist; Gott, der in seinem Heiligen Geist bei uns einkehrt, ihn, dessen Liebe nicht nur wie Gras und Ufer ist, ihn zu verkündigen, das ist die Hauptaufgabe der Musik in unseren Kirchen. Und dabei spielt die Orgel, die Königin der Instrumente als erste Dienerin ihres Gottes eine Hauptrolle. Sie gibt den Ton an, wenn wir singen. Sie gibt den Takt vor, wenn wir Gott loben oder seine Taten verkündigen, wenn wir ein neues Lied oder das alte Lied neu anstimmen. Sie führt uns, dass wir den Mund aufkriegen, den richtigen Ton finden und unsere Stimme hören lassen. Sie hat das erste und das letzte Wort im Gottesdienst. Sie ist vielstimmig wie ein ganzes Orchester. Orgel und Organ kommen von demselben lateinischen Wort. Sie ist nicht nur ein lautes Organ, sondern kann jubilieren und klagen, flöten und geigen, trompeten und mit der Mixtur alle Klänge durcheinander mischen. So wie in einer Gemeinde sich die verschiedenen Stimmen mischen.
Musica, sagt Luther in einer anderen Tischrede, ist der besten Künste eine. Die Noten machen den Text lebendig. Sie verjagt den Geist der Traurigkeit, wie man am König Saul sieht. Luther kritisiert die städtischen Sparpläne, mit denen die Berater dem Landesherrn jährlich 3.000 Gulden einsparen wollten, während man an anderer Stelle unnütz 30.000 Gulden vertut. Könige, Fürsten und Herrn müssen die Musicam erhalten. Ihre Aufgabe ist es, wie für die Gesetze so auch für die guten freien Künste zu sorgen. Die einzelnen einfachen Privatmenschen, die ihre Lust und ihre Freude daran haben und die Musik lieben, können sie doch nicht erhalten. Insofern sind 30.000 Euro für eine Orgel doch gut ausgegebenes Geld. Und darüber, wie es weitergeht, sollen wir uns keine Sorgen machen. „All eure Sorge werft auf ihn; denn er sorgt für euch.“
Amen.