18.11.2012 Pfr. Lindner: Volkstrauertag

Lesung

Sendschreiben an die Gemeinde in Smyrna, aus der Offenbarung des Johannes, Kap 2, 8-11

In unserem Predigttext geht es um das zweite von sieben sog. Sendschreiben an die Gemeinden; es ist an die Stadt Smyrna gerichtet, das heutige Izmir. Smyrna bedeutet so viel wie „Bitterkeit“ und deutet auf die zehn Wellen der Christenverfolgung der ersten Jahrhunderte hin, die im Text erwähnt werden.

An den Engel der Gemeinde in Smyrna schreibe: "Diese Botschaft kommt von dem, der zugleich der Erste und der Letzte ist, der tot war und nun wieder lebt. 
Ich kenne alle deine Leiden und weiß, in welcher Armut du lebst - aber in Wirklichkeit bist du reich. 
Ich weiß auch, wie bösartig euch die Leute verleumden, die sich als Angehörige des Gottesvolkes ausgeben, in Wirklichkeit aber sind sie Gehilfen des Satans.
Fürchte dich nicht vor dem, was dir noch bevorsteht. Du wirst noch mehr leiden müssen. Es wird so weit kommen, dass der Teufel einige von euch ins Gefängnis werfen lässt, um euch auf die Probe zu stellen. Zehn Tage lang werdet ihr leiden müssen.
Lass dich durch das alles nicht erschrecken! Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens – des ewigen Lebens - geben."
Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt! Wer überwindet, dem wird der zweite, der ewige Tod nichts anhaben können.

Predigt

Hinführung
Gehört zum Leben das Leiden dazu, liebe Gemeinde? Ja, brauchen wir das Leid, um überhaupt das Leben in seiner Tiefe zu verstehen? Diese Frage möchte ich mit Ihnen bedenken.
Heute am Volkstrauertag machen wir uns bewusst, dass wir das ungerechte Leiden durch Kriege, Verfolgungen und Gewalttaten nicht brauchen. Wir empfinden es als sinnlos. Wir wollen es mit aller Macht verhindern. Deshalb begehen wir diesen Tag. Und wie oft werden wir heute hören: „Wir werden alles in unserer Macht stehende tun, damit dieses Unrecht nie mehr geschieht.“ Allerdings ist uns allen auch bewusst, wie wenig das letztlich in unserer Macht steht.
In unserem Land dürfen wir eine Friedenszeit genießen, von der unsere Vorfahren nur träumen konnten. Erlebten unsere Großeltern zum Teil gleich zwei Weltkriege in ihrem Leben, so kennen alle von uns, die jünger sind als 67 Jahre, nur Friedenszeit.
Doch wir stehen heute in einer ganz anderen Gefahr. Der Segen der Friedenszeit verleitet uns zu der Illusion, uns von allem äußeren Leid entledigen zu können. Wir suchen ein Leben, das möglichst frei ist von irgendeinem Leiden. Alles Leiden empfinden wir als unrecht.

1. Vom Segen des Leidens
Unser Predigttext spricht nun eine andere Sprache. Dort wird einer Gemeinde, die im Leid und Verfolgung steht zugesprochen, dass sie reich ist. Es wird ihr gesagt, dass sie Vieles fürchten soll, aber nicht das Leid. Und schließ-lich wird ihr versichert, dass am Ende ihres Leidens ihr Leben gekrönt wird.
Hören sie noch einmal den Predigttext:
An den Engel der Gemeinde in Smyrna schreibe: Diese Botschaft kommt von dem, der zugleich der Erste und der Letzte ist, der tot war und nun wieder lebt.
„Ich kenne alle deine Leiden und weiß, in welcher Armut du lebst - aber in Wirklichkeit bist du reich.
Ich weiß auch, wie bösartig euch die Leute verleumden, die sich als Angehörige des Gottesvolkes ausgeben, in Wirklichkeit aber sind sie Gehilfen des Satans.
Fürchte dich nicht vor dem, was dir noch bevorsteht. Du wirst noch mehr leiden müssen. Es wird so weit kommen, dass der Teufel einige von euch ins Gefängnis werfen lässt, um euch auf die Probe zu stellen. Zehn Tage lang werdet ihr leiden müssen.
Lass dich durch das alles nicht erschrecken! Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.
Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt! Wer überwindet, dem wird der zweite Tod nichts anhaben können.
In dieser christlichen Urgemeinde gehört das Leiden dazu. Es wird sogar als hilfreich und notwendig angesehen. Das Leid ist notwendig, damit das Leben an Tiefe gewinnt. Das Leid ist notwendig, damit unser Glaube wächst und damit unser Leben nicht das eigentliche Ziel, die Krone des Lebens, aus den Augen verliert.

2. Gefahr der Glückphilosophie
Tatjana Goritschewa, eine russisch-orthodoxe Christin, die vor einigen Jahren aus Russland kam und jetzt in Paris lebt, schreibt in ihrem Buch "Die Kraft der Ohnmächtigen":
„Hier im Westen erlebe ich eine große Leidensscheu bei den Christen. Sie schämen sich sogar zu sagen, dass sie Leiden und Not haben. Aber wie sollen diese Christen die Tiefen und damit den Reichtum des Lebens überhaupt einmal erfassen können? Sie schämen sich, anstatt das Leben zu nehmen, wie es Gott gibt. Ja sogar die Christen fangen an, Gott anzuklagen. Man hat noch nicht entdeckt, wie das Leid den Menschen bereichert, verinnerlicht, wie es den Menschen menschlich macht.
Aber es ist nicht nur Scham, es ist auch Unwille, es ist eine Glücksphilosophie. Der Mensch meint, er habe ein Recht auf Glück, und er weiß gar nicht, welches Leid er sich damit antut. Denn dieser Rechtsanspruch auf Glück zerreißt ihn. Er ist wie ein auf die falsche Bank ausgeschriebener, ungedeckter Scheck. Es ist vielleicht gut, dass man das Glück sucht, denn eigentlich sollten die Christen wirklich die glücklichsten Menschen sein. Aber wie man und wo man es sucht - darauf kommt es an. Die meisten mischen da von jedem etwas zusammen: ein bisschen - nicht zu wenig! Geld, etwas Fernsehen, etwas Reisen, etwas Kultur, etwas Wissenschaft. Von allem etwas. Das haben wir ganz großgeschrieben. Und so sucht man das Glück an der falschen Stelle. Man versteht nie, dass Glück mit dem Kreuz verbunden ist. Gott wirkt das Glück im bestehenden Leid. Denn wer das Leid annimmt, erlebt darin auch eine besondere Nähe zu Gott, die jedes andere Glück weit übersteigt. Diese Erfahrung habe ich gemacht."

3. Verfolgung damals
Wenn wir uns mit der urchristlichen Gemeinde in Smyrna vergleichen, geht es uns als Christen sehr gut. Wir können unseren christlichen Glauben leben, ohne Benachteiligung. Niemand zwingt uns einen anderen Glauben auf. Wir können ganz frei Gottesdienste und kirchliche Veranstaltungen besuchen. Unser Glaube fordert uns rein äußerlich kein Opfer ab. Von dieser Freiheit konnten die Christen in Smyrna nur träumen. Dort gab es nicht nur eine kurze Verfolgungszeit, bei der viele Christen ins Gefängnis geschickt wurden. Die Christenverfolgungen dauerten über dreihundert Jahre und forderten zahlloseTodesopfer.
Etwa 60 Jahre nach der Verfassung unseres Briefes, also im Jahre 156, wurde der Bischof von Smyrna Polykarp hingerichtet. Der greise Bischof wurde vom römischen Prokonsul gezwungen, abzuschwören, dass Jesus von den Toten auferstanden ist und auch abzuschwören, dass Er wiederkommen wird. Genau formulierte der königliche Beauftragte: „Nimm Rücksicht auf dein Alter, schwöre beim Glück des Kaisers, lästere Christus, und ich lasse dich frei.“ Darauf antwortete der Bischof:  „Schon 86 Jahre diene ich Jesus Christus und Er hat mir nie ein Leid getan. Wie kann ich meinen König lästern, der mich vom Tod erlöst hat?“
Darauf wurde beschlossen, Polykarp sollte lebendig verbrannt werden. Noch auf dem Scheiterhaufen betete er: „Herr, Vater Deines Sohnes Jesus Christus, ich preise Dich, dass Du mich dieses Tages und dieser Stunde gewürdigt hast.“
Der Glaube an Jesus Christus hat Polykarp durch sein langes Leben getragen. Dieser Glaube gab ihm eine tiefe Geborgenheit. Diese innere Geborgenheit machte ihn reich und auch treu. Er konnte sein Leben hergeben, weil er etwas Wertvolleres gefunden hatte. Er konnte dem Bibelwort vertrauen: „Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.“ Hätte er dem König gehuldigt, so wären ihm vielleicht noch einige gute Jahre auf dieser Erde geblieben. Doch er hätte seine Hoffnung auf die Ewigkeit Gottes, auf die Krone des Lebens, verloren.

4. Herausforderung unserer Zeit
Was ist die Anfechtung unseres Glaubens heute? Es gibt keine äußere Verfolgung, aber so etwas wie eine innere Verfolgung. Tatjana Goritschewa hat es sehr schön mit einer Glücksillusion beschrieben, verbunden mit einer gefährlichen Leidensscheu.
Wir stehen ständig in der Angst, dass irgendwelche Leiden unser Lebensglück beschneiden könnten. So fürchten wir das Leiden, ja wir verteufeln es manches Mal sogar. Wir bekämpfen es mit allen Mitteln. Dabei merken wir nicht, wie uns Gott gerade das Leid in unseren Lebensweg legt, weil er es gut mit uns meint.
Die Leidenseinheiten sind nicht Strafen Gottes, wie wir das so oft missverstehen. Die Leidenseinheiten sind vielmehr Aufbaunahrung für unser geistliches Leben.
Wir brauchen diese Herausforderungen des Leidens, damit wir unser großes Ziel – eben die Krone des Lebens – nicht aus den Augen verlieren.
Wir brauchen die Gnade des Leidens, damit der Glaube und die Hoffnung in uns wächst und so fest wird, dass kein Sturm des Lebens, uns diesen Schatz mehr nehmen kann.
Wie oft höre ich die Frage: „Warum läßt Gott das zu?“ Und ich bin um eine überzeugende Antwort verlegen. Weil ich eben weiß, das ist die Frage unserer Glücksphilosphie, die uns vorgaukelt, dass unser Leben in erster Linie aus Spaß, schönem Leben und Glück besteht.
Doch das wirkliche Ziel unseres Lebens ist das „reif werden“ für das Leben bei Gott. Dieses Reifen fällt uns nicht zu. Wir reifen, wenn wir uns dem Willen Gottes stellen, den Gott für unser Leben ausgesucht hat. Wir reifen, wenn wir wie Jesus sagen können: „Nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe!“ Wir reifen, wenn wir nicht fragen: „Warum?“, sondern bitten: „Herr, hilf mir, dass ich Deine Herausforderung annehmen kann, stehe mir bei und gib mir Kraft, dir treu zu bleiben, auch wenn ich vieles nicht verstehe!“
Wenn wir heute das unsägliche Leid der Kriege bedenken, dann darf uns auch bewusst werden, dass gerade in diesen Zeiten die meisten unserer großen Trostlieder entstanden sind - unter anderem die Verse von Dietrich Bonhoeffer im KZ:
  Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag.
  Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jeden neuen Tag.
  Und reichst Du uns den Kelch, den bittern, des Leids gefüllt bis an den höchsten Rand,
  dann nehmen wir ihn dankbar, ohne Zittern, aus Deiner guten und geliebten Hand.
Als Christen werden wir heute und an allen Tagen mithelfen, dass ungerechtes Leid keinen Raum gewinnen darf in unserem Land.
Auf der anderen Seite sind wir bereit, Leid, das uns widerfährt, aus Gottes Hand zu nehmen. Wir brauchen uns vor keinem Leid zu fürchten. Denn der Gott, der uns eine Last auflädt, er hilft uns auch. Sein Leid will uns stets zum Segen werden und uns helfen, die Krone des Lebens zu finden.

Amen.